Der Mathematiker
John von Neumann • John von Neumann über den empirischen Charakter der Mathematik (Last Update: 01.01.2014)
Die
Erörterung des Wesens intellektueller Arbeit ist in jedem Gebiet
eine schwierige Aufgabe, selbst in solchen Bereichen, die nicht so
weit vom Hauptfeld der gewöhnlichen intellektuellen Tätigkeit
des Menschen entfernt sind, wie es die Mathematik immer noch ist. Es
ist per se schwierig, das Wesen irgendeiner geistigen Leistung zu
erörtern - auf jeden Fall schwieriger als diese besondere
intellektuelle Leistung bloß zu vollbringen. Es ist schwerer,
den Mechanismus eines Flugzeugs und die Theorie der Kräfte, die
es emporheben und antreiben, zu verstehen, als lediglich mit ihm zu
fliegen, von ihm emporgehoben und transportiert zu werden - oder
sogar es zu steuern. Nur in außergewöhnlichen Fallen ist
es möglich, einen Prozeß zu verstehen, bevor man sich
eingehend damit vertraut gemacht hat, wie man mit ihm umgeht, wie man
ihn anwendet, und bevor man ihn auf instinktive und empirische Weise
erfaßt hat.
Somit ist jegliche Diskussion über das Wesen
intellektueller Tätigkeit in jedem Gebiet schwierig, es sei
denn, das Gebiet ist einem geläufig und durch Gewohnheit
vertraut. In der Mathematik wird diese Einschränkung sehr
schwerwiegend, falls die Erörterung auf einem
nicht-mathematischen Niveau gehalten werden muß. Die Diskussion
wird dann notwendigerweise einige sehr nachteilige Züge
aufweisen; Feststellungen, die gemacht werden, können niemals
richtig belegt werden, und eine gewisse Oberflächlichkeit der
gesamten Diskussion wird unvermeidlich.
Ich
bin mir dieser Unzulänglichkeiten bei dem, was ich sagen mochte,
voll bewußt, und ich entschuldige mich im voraus dafür.
Außerdem werden die Ansichten, die ich vortragen werde,
vermutlich von vielen anderen Mathematikern nicht ganz geteilt - sie
werden es mit den nicht allzu gut systematisierten Eindrücken
und Interpretationen eines Einzelnen zu tun haben - und ich kann
Ihnen bei Ihrer Entscheidung, wieviel sie zur Sache beitragen, nur
wenig behilflich sein.
Trotz aller dieser Hindernisse muß ich
jedoch zugeben, daß es eine interessante und herausfordernde
Aufgabe ist, den Versuch zu unternehmen, zu Ihnen über das Wesen
der intellektuellen Leistung in der Mathematik zu sprechen. Ich hoffe
nur, daß ich nicht allzusehr dabei fehlgehe.
Das wesentlichste
Merkmal der Mathematik ist meiner Ansicht nach ihre ganz besondere
Beziehung zu den Naturwissenschaften oder, allgemeiner ausgedrückt,
zu jeder Wissenschaft, die die Erfahrung auf einer höheren Ebene
als der rein beschreibenden interpretiert.
Die meisten Menschen,
Mathematiker und andere, sind sich einig, daß die Mathematik
keine empirische Wissenschaft ist oder zum mindesten, daß sie
in einer Art betrieben wird, die sich in mehreren entscheidenden Punk
ten von den Techniken der empirischen Wissenschaften unterscheidet.
Und dennoch ist ihre Entwicklung mit den Naturwissenschaften eng
verbunden. Einer ihrer Hauptzweige, die Geometrie, begann in
Wirklichkeit als empirische Naturwissenschaft. Einige der besten
Ideen der modernen Mathematik (ich glaube, die besten haben ihren
Ursprung ganz eindeutig in den Naturwissenschaften. Die
mathematischen Methoden durchdringen und beherrschen die
'theoretischen' Abteilungen der Naturwissenschaften. In den modernen
empirischen Wissenschaften ist es immer starker zu einem bedeutenden
Erfolgskriterium geworden, ob sie der mathematischen Methode oder den
annähernd mathematischen Methoden der Physik zugänglich
sind. In der Tat zeigt sich im gesamten Bereich der
Naturwissenschaften immer deutlicher eine ununterbrochene Kette
aufeinanderfolgender Metamorphosen, die alle zur Mathematik drängen,
eine Tendenz, die fast mit der Idee des wissenschaftlichen
Fortschritts identisch ist. Die Biologie wird in immer stärkerem
Maße von Chemie und Physik durchdrungen, die Chemie von
experimenteller und theoretischer Physik und die Physik wiederum von
sehr mathematischen Formen der theoretischen Physik.
1m Wesen der
Mathematik liegt eine ganz eigenartige Duplizität. Man muß
diese Duplizität erkennen, sie akzeptieren und sie in seine
Betrachtungen über das Thema einbeziehen. Dieses doppelte
Gesicht ist das Gesicht der Mathematik, und ich glaube nicht, daß
irgendeine vereinfachte, vereinheitlichende Sicht des Gegenstandes
möglich ist, ohne am Wesentlichen vorbeizugehen. Deshalb werde
ich nicht versuchen, Ihnen eine vereinheitlichte Version anzubieten.
Ich werde vielmehr versuchen, das vielfältige Phänomen, das
die Mathematik ist, so gut wie möglich zu beschreiben. Es laßt
sich nicht leugnen, daß einige der besten Ideen in der
Mathematik - in jenen ihrer Bereiche, bei denen es sich um die
reinste Mathematik handelt, die man sich vorstellen kann - aus den
Naturwissenschaften hervorgegangen sind. Wir wollen die beiden
gewichtigsten Tatsachen erwähnen.
Das erste Beispiel ist
natürlich die Geometrie. Diese bildete den wichtigsten Teil der
alten Mathematik. Sie ist mit mehreren ihrer Verzweigungen immer noch
einer der Hauptbereiche der modernen Mathematik. Es kann kein Zweifel
daran bestehen, daß ihr Ursprung in der Antike empirisch war,
und daß sie als Disziplin ähnlich wie die theoretische
Physik heute entstanden ist. Abgesehen von aller anderen Evidenz sagt
dies allein schon der Name 'Geometrie'. Euklids von Postulaten
ausgehende Darstellung bedeutete einen großen Schritt weg von
der Erfahrungsgrundlage; es ist jedoch keineswegs leicht, den
Standpunkt zu verteidigen, daß es sich hierbei um den
entscheidenden und endgültigen Schritt handelte, der eine
absolute Trennung bedeutete. Daß Euklids Axiomatisierung
in einigen unwichtigeren Punkten nicht den modernen Forderungen nach
absoluter axiomatischer Strenge gerecht wird, ist in diesem Fall von
geringerer Bedeutung. Wesentlicher ist folgendes: Andere Disziplinen,
die zweifellos empirisch sind, wie z.B. die Mechanik und die
Thermodynamik, werden für gewöhnlich als mehr oder weniger
von Postulaten ausgehend charakterisiert, was in der Behandlung
einiger Verfasser kaum von Euklids Vorgehen zu unterscheiden ist. Das
heute klassische Werk der theoretischen Physik, Newtons 'Principia"
ähnelt Euklid stark bezüglich der literarischen Form und
des Inhalts einiger seiner entscheidendsten Teile. Natürlich
steht in allen diesen Fällen hinter der von Postulaten
ausgehenden Darstellung die physikalische Einsicht, die die Postulate
stützt, und die experimentelle Überprüfung, die den
Sätzen Rückhalt bietet. Man konnte jedoch durchaus
behaupten, daß Euklid vom Standpunkt der Antike aus ähnlich
zu interpretieren war, bevor die Geometrie ihre gegenwärtige
zweitausendjährige Stabilität und Autorität gewonnen
hat - eine Autorität, die dem modernen Gebäude der
theoretischen Physik eindeutig fehlt.
Wenn auch die Geometrie sich
nach Euklid allmählich von der Empirie entfernte, so wurde die
Trennung jedoch niemals, nicht einmal in der Neuzeit, vollständig
vollzogen. Die Diskussion Über die nicht-euklidische Geometrie
veranschaulicht dies gut und zeigt auch die Ambivalenz des
mathematischen Denkens.Da sich diese Diskussion zum größten
Teil auf höchst abstrakter Ebene abspielte, befaßte sie
sich mit dem rein logischen Problem, ob Euklids 'fünftes
Postulat' eine Folge der anderen ist oder nicht; und die formale
Auseinandersetzung wurde durch F. Kleins rein mathematisches Beispiel
beendet, das zeigte, wie ein Stück euklidischer Ebene
nichteuklidisch gemacht werden konnte, indem man bestimmte
Grundbegriffe formal neu definierte. Und dennoch war der empirische
Impuls von Anfang bis zum Ende vorhanden. Der Hauptgrund, warum
gerade das fünfte der euklidischen Postulate infrage gestellt
wurde, war offensichtlich der nicht-empirische Charakter des
Begriffes der ganzen unendlichen Ebene, der dort und nur dort,
auftaucht. Der Gedanke, daß in mindestens einer bedeutenden
Hinsicht - und trotz aller mathematischlogischen Analysen - die
Entscheidung für oder gegen Euklid empirisch sein müßte,
war sicher dem Denken des größten Mathematikers, Gauss,
bewußt. Und obwohl Bolyai, Lobatschevski, Riemann und Klein
more abstracto das, was wir heute als die formale Beilegung der
Kontroverse betrachten, erhalten hatten, behielt die Empirie - oder
vielmehr die Physik - dennoch das letzte Wort. Die Entdeckung der
allgemeinen Relativitätstheorie zwang zu einer Revision unserer
Ansichten über die Struktur der Geometrie in einem vollkommen
neuen Rahmen und auch zu einer ganz neuen Verteilung der rein
mathematischen Schwerpunkte. Zum Schluß noch ein Pinselstrich,
um das kontrastreiche Bild zu vollenden. Die zuletztgenannte
Entwicklung fand in derselben Generation statt, in der die modernen
axiomatisch-logischen Mathematiker Euklids axiomatische Methode
vollkommen vom Empirismus befreiten und sie abstrakt faßten.
Und diese beiden,scheinbar einander widersprechenden Auffassungen
sind in einem einzigen mathematischen Geist vollkommen miteinander
vereinbar; Hilbert nämlich lieferte wichtige Beitrage sowohl zur
axiomatischen Geometrie,als auch zur allgemeinen Relativitätstheorie.
Das zweite Beispiel ist die Differential- und Integralrechnung - oder
vielmehr die gesamte höhere Analysis, die daraus hervorging. Die
Differential- und Integralrechnung war die erste Leistung der
modernen Mathematik, und ihre Bedeutung kann nur schwerlich
überschätzt werden. Meiner Ansicht nach markiert sie
unmißverständlicher als alles andere den Beginn der
modernen Mathematik, und das System der mathematischen Analysis,
welches ihre logische Weiterentwicklung ist, stellt noch den größten
operativen Fortschritt im exakten Denken dar.
Die Ursprünge der
Differential- und Integralrechnung sind eindeutig empirisch. Keplers
erste Integrationsversuche wurden als 'Dolichometrie' - Messung von
Fässern - formuliert, d.h. Volumenmessung für Kerper mit
gekrümmten Oberflächen. Dies ist Geometrie, jedoch
nacheuklidische, und in der betreffenden Epoche nichtaxiomatische,
empirische Geometrie. Kepler war sich dessen vollkommen bewußt.
Die Hauptleistung und die wichtigsten Entdeckungen, namlich jene von
Newton und Leibnitz, waren explizit physikalischen Ursprungs. Newton
erfand die 'Fluxionsrechnung' hauptsächlich für die Zwecke
der Mechanik - tatsächlich wurden die beiden Gebiete
Differential- und Integralrechnung bzw. Mechanik mehr oder weniger
zusammen von ihm entwickelt. Die ersten Formulierungen der
Differential- und Integralrechnung waren nicht einmal mathematisch
genau. Nach Newton stand 150 Jahre lang einzig und allein eine
unexakte, halbphysikalische Formulierung zur Verfügung. Und
dennoch vollzogen sich wahrend dieser Periode, trotz der unexakten
und mathematisch unzureichenden Grundlagen, einige der wichtigsten
Fortschritte der Analysis. Manche der führenden Mathematiker der
Zeit achteten offensichtlich nicht auf mathematische Strenge, wie
Euler beispielsweise; andere dagegen, wie Gauss und Jacobi taten dies
im großen und ganzen. Die Entwicklung verlief höchst
verworren und verschwommen, und ihre Beeinflussung durch die Empirie
steht sicherlich nicht mit unseren heutigen (oder Euklids)
Auffassungen von Abstraktion und Strenge im Einklang. Dennoch würde
kein Mathematiker diese Epoche missen wollen - brachte sie doch die
erstklassigste Mathematik hervor, die es je gab! Und selbst nachdem
mit Cauchy die Herrschaft der Strenge wiederhergestellt worden war,
fand bei Riemann ein sehr eigenartiger Rückfall in
halbphysikalische Methoden statt. Riemanns Persönlichkeit als
Wissenschaftler ist selbst ein sehr anschaulisches Beispiel für
das Doppelwesen der Mathematik, ebenso wie die Kontroverse zwischen
Riemann und Weierstrass; es würde jedoch zu weit führen,
wenn ich auf spezifische Einzelheiten eingehen wollte. Seit
Weierstrass scheint die Analysis vollkommen abstrakt, streng und
nicht-empirisch geworden zu sein. Aber so gar dies ist nicht
uneingeschränkt wahr. Der Streit um die 'Grundlagen' der
Mathematik und Logik, der in den beiden letzten Generationen
ausgetragen wurde, zerstörte so manche Illusion in dieser
Hinsicht.
Hiermit komme ich zu dem dritten Beispiel, das für die
Einschätzung relevant ist. Dieses Beispiel handelt jedoch eher
von der Beziehung der Mathematik zur Philosophie oder
Erkenntnistheorie als zu den Naturwissenschaften. Es veranschaulicht
in sehr treffender Weise, daß der reine Begriff der 'absoluten'
mathematischen Strenge nicht unveränderlich ist. Die
Veränderlichkeit des Begriffes Strenge zeigt, daß das Bild
der Mathematik noch durch einen weiteren Bestandteil, abgesehen von
dem der mathematischen Abstraktion, ergänzt werden muß.
Aus der Analyse des Streites um die 'Grundlagen' geht meiner Ansicht
nach nicht unbedingt hervor, daß diese zusätzliche
Komponente empirischer Natur sein muß. Es spricht zwar viel für
eine solche Interpretation - das ergibt sich mindestens aus einigen
Phasen der Diskussion - aber ich halte sie nicht für absolut
zwingend. Zwei Dinge sind jedoch klar: Erstens, daß auf jeden
Fall etwas Nichtmathematisches, welches irgendwie mit den empirischen
Wissenschaften oder mit der Philosophie oder mit beiden verbunden
ist, eine wesentliche Rolle spielt - und daß dessen
nichtempirischer Charakter nur dann aufrechterhalten werden konnte,
wenn man annähme, daß die Philosophie (oder genauer gesagt
die Erkenntnistheorie) unabhängig von der Erfahrung existieren
kann,(und diese Annahme wiederum ist nur notwendig, aber nicht
hinreichend). Zweitens, daß, unabhängig davon, wie der
Streit um die 'Grundlagen' am besten zu interpretieren ist, Falle,
wie unsere beiden obigen Beispiele (Geometrie bzw. Differential- und
Integralrechnung) eine starke Unterstützung fur die Annahme des
empirischen Ursprungs der Mathematik bieten.
Bei der Analyse der
Veränderlichkeit des Begriffes der mathematischen Strenge mochte
ich, wie oben erwähnt, die Hauptbetonung auf den
'Grundlagen'-Streit legen. Vorher sei jedoch kurz auf einen
sekundären Aspekt der Angelegenheit eingegangen. Dieser Aspekt
stutzt ebenfalls meine Behauptung, ich betrachte ihn aber deshalb als
sekundär, weil er vermutlich weniger überzeugend ist als
die Analyse des 'Grundlagen' Streites. Ich spreche von den Änderungen
des mathematischen 'Stils'. Es ist allgemein bekannt, daß der
Stil mathematischer Beweise beträchtlichen Schwankungen
unterworfen war. Man spricht besser von Schwankungen als von einem
Trend, weil zwischen den modernen und einigen der Mathematiker des
18. oder des 19. Jahrhunderts in gewisser Hinsicht größere
Stilunterschiede festzustellen sind als zwischen den modernen
Mathematikern und Euklid. Andererseits hat es in anderen Punkten eine
bemerkenswerte Konstanz gegeben. In manchen Gebieten, in denen
Unterschiede vorhanden sind, handelt es sich hauptsächlich um
Unterschiede in der Darstellung, die behoben werden können, ohne
neue Ideen einzuführen. In vielen Fallen sind die Unterschiede
jedoch so groß, daß man bezweifeln kann, ob lediglich
Unterschiede im Stil, in Geschmack und in der Erziehung die Verfasser
trennen, die 'ihre Falle' auf so unterschiedliche Art und Weise
'darstellen' ,- ob sie wirklich die gleichen Vorstellungen bezüglich
mathematischer Strenge gehabt haben können. In extremen Fallen
schließlich (z.B. in vielen Arbeiten der Analysis des späten
18. Jahrhunderts, siehe oben) handelt es sich um wesentliche
Unterschiede, die, wenn überhaupt, nur mit Hilfe neuer und
tiefgründiger Theorien, deren Entwicklung an die hundert Jahre
dauerte, behoben werden können. Einige der Mathematiker, die auf
eine solche, für uns unexakte Weise arbeiteten (oder einige
ihrer Zeitgenossen, die sie kritisierten) , waren sich durchaus im
klaren darüber, daß sie es an Strenge fehlen ließen.
Objektiver gesagt, heißt das: Ihre eigenen Wünsche in
bezug auf das richtige mathematische Arbeiten stimmten vielmehr mit
unseren heutigen Ansichten als mit ihren Handlungen überein.
Andere dagegen, z.B. Euler, der größte Virtuose jener
Epoche, scheinen ganz in gutem Glauben gehandelt zu haben und mit
ihren eigenen Maßstäben recht zufrieden gewesen zu sein.
Ich möchte jedoch diese Sache nicht weiterführen, sondern mich
statt dessen einem vollkommen eindeutigen Fall, nämlich dem
Streit um die 'Grundlagen der Mathematik' zuwenden. Ende des 19. und
Anfang des 20. Jahrhunderts führte ein neuer Zweig der
abstrakten Mathematik, nämlich G. Cantors Mengenlehre, zu
Schwierigkeiten. Aufgrund bestimmter mathematischer Gedankengange kam
es zu Widersprüchen; und wenn auch diese Gedankengange nicht in
dem Hauptteil,dem 'nützlichen' Teil der Mengenlehre vorkamen und
stets leicht durch bestimmte formale Kriterien herauszufinden waren,
so war es dennoch nicht klar, warum sie als weniger mengentheoretisch
als die 'erfolgreichen' Teile der Theorie angesehen werden sollten.
Abgesehen von der Einsicht ex post, daß sie tatsächlich
zur Katastrophe führten, war es nicht klar, welche Motivation a
priori, welche der Situation angemessene Philosophie es einem
erlauben würde, sie von jenen Teilen der Mengenlehre zu trennen,
die man retten wollte. Eine eingehendere Studie der wesentlichen
Punkte des Falles, die hauptsächlich von Russell und Weyl
durchgeführt und von Brouwer beendet wurde, zeigte, daß
die Art und Weise, in der nicht nur die Mengenlehre, sondern auch
fast die gesamte moderne Mathematik die Begriffe
'Allgemeingültigkeit' und 'Existenz' verwendete, philosophisch
nicht einwandfrei war. Ein mathematisches System, das diese
unerwünschten Merkmale nicht aufwies, der 'Intuitionismus',
wurde von Brouwer entwickelt. In diesem System tauchten die
Schwierigkeiten und Widersprüche der Mengenlehre nicht auf.
Jedoch gut die Hälfte der modernen Mathematik wurde in ihren
wichtigsten und bis dahin unbestrittenen Teilen ebenfalls von dieser
'Säuberung' betroffen: Sie wurden entweder ungültig oder
mußten durch sehr schwierige ergänzende Überlegungen
gerechtfertigt werden. Und bei diesem letzteren Prozeß ergab
sich gewöhnlich ein beträchtlicher Verlust an
Allgemeingültigkeit und Eleganz der Deduktion. Dennoch hielten
Brouwer und Weyl es für notwendig, daß der Begriff der
mathematischen Strenge in Übereinstimmung mit diesen Ideen
revidiert werden müsse.
Die Bedeutung dieser Ereignisse kann nur
schwerlich überschätzt werden. In den dreißiger
Jahren des 20. Jahrhunderts machten zwei Mathematiker - die beide
Wissenschaftler ersten Ranges und sich beide so vollkommen wie nur
wünschbar darüber im klaren waren, was Mathematik ist, bzw.
welchen Sinn und Zweck sie hat - den Vorschlag, den Begriff der
mathematischen Strenge, den Begriff dessen, was einen exakten Beweis
ausmacht, zu andern! Die sich hieraus ergebenden Entwicklungen
verdienen ebenfalls unsere Aufmerksamkeit:
1.
Nur sehr wenige Mathematiker waren bereit, die neuen anspruchsvollen
Maßstabe zu akzeptieren und bei ihrer eigenen Arbeit anzulegen.
Sehr viele jedoch gaben zu, daß Weyl und Brouwer prima facie
recht hatten, sie selbst jedoch sündigten weiterhin, d.h.
betrieben ihre eigene Mathematik in der alten, 'einfachen' Methode
weiter - vermutlich in der Hoffnung, daß schon irgend jemand
irgendwann einmal die Antwort auf die intuitionistische Kritik finden
und ihre Arbeit dadurch a posteriori gerechtfertigt würde.
2.
Hilbert präsentierte die folgende, geniale Idee zur
Rechtfertigung der 'klassischen' (d.h. prä-intuitionistischen)
Mathematik: Selbst im intuitionistischen System ist es möglich,
einen strengen Nachweis darüber zu erbringen, wie man in der
klassischen Mathematik vorgeht, d.h. man kann beschreiben, wie das
klassische System arbeitet, obwohl man seine Arbeitsweise nicht
rechtfertigen kann. Es wäre deshalb vielleicht möglich,
intuitionistisch zu demonstrieren, daß klassische Verfahren
niemals zu Widersprüchen, zu Konflikten untereinander führen
können. Es war klar, daß ein entsprechender Beweis sehr
schwierig sein würde, es gab jedoch bestimmte Hinweise dafür,
wie man die Sache anpacken konnte. Wenn dieser Plan funktioniert
hatte, hatte er eine sehr bemerkenswerte Rechtfertigung der
klassischen Mathematik auf der Basis des widerstreitenden
intuitionistischen Systems selbst erbracht! Zum mindesten wäre
diese Interpretation in einem System der Philosophie der Mathematik,
das die meisten Mathematiker bereit waren zu akzeptieren, einwandfrei
gewesen.
3.
Nachdem etwa zehn Jahre lang versucht worden war, das Hilbert'sche
Programm durchzuführen, kam Gödel zu einem sehr
bemerkenswerten Resultat. Dieses Ergebnis kann nicht ohne mehrere
Vorbehalte und Warnungen, deren detaillierte Beschreibung an dieser
Stelle zu weit ginge, absolut präzise dargestellt werden. Seine
wesentliche Bedeutung ist jedoch folgende: Wenn ein mathematisches
System nicht zum Widerspruch führt, dann kann diese Tatsache
nicht mit Hilfe der Verfahren jenes Systems demonstriert werden.
Gödels Beweis befriedigte das strikteste Kriterium
mathematischer Strenge, nämlich das intuitionistische. Sein
Einfluß auf das Hilbert'sche Programm ist in gewisser Weise
umstritten, und zwar aus Gründen, die aufzuführen an dieser
Stelle wiederum zu weit führen würde. Meiner persönlichen
Meinung nach, die von vielen anderen geteilt wird, hat Gödel
gezeigt, daß das Hilbert'sche Programm im wesentlichen keine
Aussicht auf Erfolg besitzt.
4.
Obwohl sich die größte Hoffnung auf eine Rechtfertigung
der klassischen Mathematik - im Sinne von Hilbert oder von Brouer und
Weyl - zerschlagen hatte, beschlossen die meisten Mathematiker,
dieses System dennoch zu verwenden. Immerhin erzielte man in der
klassischen Mathematik Resultate, die sowohl elegant als auch
nützlich waren, und selbst wenn man nie wieder ihrer absoluten
Zuverlässigkeit gewiß sein konnte, so ruhten sie dennoch
auf einer mindestens ebenso soliden Grundlage, wie beispielsweise die
Existenz des Elektrons. Wenn man daher bereit war die
Naturwissenschaften anzuerkennen, so konnte man ebensogut das
klassische System der Mathematik akzeptieren. Es stellte sich heraus,
daß Ansichten dieser Art sogar für einige der
ursprünglichen Protagonisten des intuitionistischen Systems
annehmbar waren. Zur Zeit ist der Streit um die 'Grundlagen' bestimmt
noch nicht beigelegt, aber es scheint sehr unwahrscheinlich zu sein,
daß man, abgesehen von einer kleinen Minderheit, das klassische
System fallen läßt.
Ich habe die Geschichte dieses
Streites deshalb so sehr in Einzelheiten geschildert, weil ich
glaube, daß er als die beste Warnung dienen konnte, eine
unveränderliche Strenge in der Mathematik allzu sehr als gegeben
anzusehen. Dies geschah zu meinen Lebzeiten, und ich weiß, wie
erniedrigend leicht sich meine Ansichten über die absolute
mathematische Wahrheit wahrend dieser Ereignisse geändert haben,
ja wie sie sich sogar dreimal hintereinander geändert haben!
Ich hoffe, die obigen drei Beispiele veranschaulichen hinreichend die
eine Hälfte meiner These, daß nämlich ein großer
Teil der besten mathematischen Ideen aus der Erfahrung hervorgegangen
ist und daß man kaum an die Existenz eines absoluten,
unveränderlichen Begriffs der mathematischen Strenge glauben
kann, der von aller menschlichen Erfahrung losgelöst ist. Ich
versuche, in dieser Angelegenheit eine sehr anspruchslose Haltung
einzunehmen. Einerlei, welche philosophischen oder
erkenntnistheoretischen Ansichten man in dieser Hinsicht auch hegt,
die tatsächliche Erfahrung, die die Gilde der Mathematiker mit
ihrem Gegenstand macht, liefert wenig Anhaltspunkte für die
Annahme, daß ein a priori Begriff der mathematischen Strenge
existiert. Meine These hat jedoch auch eine zweite Hälfte, der
ich mich nun zuwenden möchte.
Jedem Mathematiker fällt es schwer zu
glauben, daß die Mathematik eine rein empirische Wissenschaft
ist oder daß alle mathematischen Ideen aus empirischen
Gegebenheiten hervorgehen. Betrachten wir zunächst die zweite
Hälfte der Behauptung. Es gibt verschiedene wichtige Teile der
modernen Mathematik, deren empirischer Ursprung entweder gar nicht
oder aber nur so entfernt nachweisbar ist, daß der Gegenstand
offensichtlich eine vollkommene Metamorphose durchgemacht hat,
nachdem man ihn von seinen empirischen Wurzeln getrennt hatte. Der
algebraische Symbolismus wurde zwar für den alltäglichen
mathematischen Gebrauch erfunden, jedoch kann man mit Recht
behaupten, daß er starke empirische Bindungen behielt. Die
moderne 'abstrakte' Algebra hat sich dagegen immer starker in Gebiete
hinein entwickelt, die fortschreitend weniger empirische Bezüge
aufweisen. Dasselbe gilt für die Topologie. Und in allen diesen
Bereichen ist das subjektive Erfolgskriterium des Mathematikers, das
Kriterium dafür, ob sich seine Mühe lohnt, in hohem Maße
auf sich selbst bezogen, ästhetisch und frei (oder beinahe frei)
von empirischen Bindungen. (Später werde ich noch mehr hierzu
sagen). In der Mengenlehre kommt das noch deutlicher zum Ausdruck.
Die 'Mächtigkeit' und die 'Anordnung' einer unendlichen Menge
mögen zwar die Verallgemeinerungen endlicher numerischer
Begriffe sein, jedoch in ihrer 'unendlichen' Form (besonders der
Begriff der 'Mächtigkeit') haben sie kaum irgendeine Beziehung
zu dieser Welt. Wenn ich es nicht vermeiden wollte, zu sehr auf
fachliche Einzelheiten einzugehen, so konnte ich dies durch
zahlreiche Beispiele aus der Mengenlehre belegen - das Problem des
'Auswahlaxioms' , die 'Vergleichbarkeit' unendlicher 'Mächtigkeiten',
das 'Kontinuum-Problem' usw. Dasselbe trifft auf einen großen
Teil der reellen Funtionentheorie und der Theorie der reellen
Punktmengen zu. Zwei seltsame Beispiele liefern die
Differentialgeometrie und die Gruppentheorie: Sie wurden ohne Zweifel
als abstrakte, nicht-angewandte Disziplin begründet und beinahe
ausnahmslos in diesem Sinne weiterentwickelt. Nach zehn bzw. hundert
Jahren stellte es sich heraus, daß sie sehr wohl in der Physik
anwendbar sind. Und sie werden immer noch meist in dem erwähnten
abstrakten, nicht anwendungsorientierten Sinn betrieben.
Die
Beispiele für alle diese Gegebenheiten und ihre verschiedenen
Kombinationen konnten vervielfacht werden, ich mochte mich statt
dessen jedoch wieder dem ersten Teil meiner Ausgangsfrage zuwenden:
ist die Mathematik eine empirische Wissenschaft? Oder, genauer
gesagt: Wird die Mathematik tatsächlich auf die Art und Weise
praktiziert, in der man eine empirische Wissenschaft betreibt? Oder,
allgemeiner ausgedrückt: Welche Beziehung hat der Mathematiker
normalerweise zu seinem Gegenstand? Welches sind seine
Erfolgskriterien, seine Zielbestimmungsmethoden? Welche Einflüsse,
welche Überlegungen kontrollieren und lenken seine Bemühungen?
Überlegen wir, inwieweit sich die Arbeitsweise, die der
Mathematiker gewöhnlich anwendet, von derjenigen in den
Naturwissenschaften unterscheidet. Der Unterschied zwischen diesen
auf der einen und der Mathematik auf der anderen Seite wird umso
großer, je mehr man von den theoretischen Disziplinen zu den
experimentellen und dann von den experimentellen Disziplinen zu den
beschreibenden übergeht. Deshalb wollen wir die Mathematik mit
der Kategorie von Disziplinen vergleichen, die ihr am nächsten
liegt - den theoretischen Disziplinen. Aus den letzteren wollen wir
diejenige wählen, die der Mathematik am nächsten steht. Ich
hoffe, man wird mich nicht zu hart kritisieren, daß ich
die mathematische , Hybris, nicht zügele und hinzufüge:
weil sie unter allen theoretischen Wissenschaften die am höchsten
entwickelte ist - nämlich die theoretische Physik. Die
Mathematik und die theoretische Physik haben in der Tat viel
Gemeinsames. Wie ich bereits oben darlegte, war das euklidische
System der Geometrie der Prototyp der axiomatischen Darstellung der
klassischen Mechanik, und ähnliche Behandlungsweisen herrschten
in der phänomenologischen Thermodynamik sowie bestimmten Phasen
des Maxwellschen Systems der Elektrodynamik und auch der speziellen
Relativitätstheorie vor. Ferner wird die Ansicht, daß die
theoretische Physik keine Phänomene erklärt, sondern
lediglich klassifiziert und korreliert, heute von den meisten
theoretischen Physikern akzeptiert. Dies bedeutet, daß das
Erfolgskriterium fur eine solche Theorie einfach darin besteht, ob
anhand eines einfachen und eleganten Systems der Klassifizierung und
Korrelierung sehr viele Phänomene erfaßt werden können,
die ohne dieses System kompliziert und heterogen erscheinen wurden,
und ob dieses System auch auf Phänomene anwendbar ist, die zur
Zeit seiner Entwicklung nicht berücksichtigt wurden oder nicht
einmal bekannt waren. (Diese beiden letzteren Feststellungen sind
natürlich der Ausdruck für die vereinheitlichende und
prognostizierende Kraft einer Theorie.) Nun hat dieses Kriterium, wie
es hier dargelegt wird, in hohem Maße einen ausgesprochen
ästhetischen Charakter. Aus diesem Grund ist es sehr nahe mit
den mathematischen Erfolgskriterien verwandt, die, wie man sehen
wird, nahezu völlig ästhetisch sind. Deshalb vergleichen
wir nun die Mathematik mit der empirischen Wissenschaft, die ihr am
nächsten steht und mit der sie, wie ich hoffe gezeigt zu haben.
viel gemein hat - mit der theoretischen Physik. Die Unterschiede im
eigentlichen modus procedendi sind dennoch groß und
grundlegend. Die Ziele der theoretischen Physik werden in der
Hauptsache von 'außen' her bestimmt und richten sich in den
meisten Fallen nach den Erfordernissen der Experimentalphysik. Sie
entstehen fast immer aus der Notwendigkeit heraus, ein schwieriges
Problem zu losen; erfolgreiche Prognosen, sowie Vereinheitlichungen
schließen sich gewöhnlich erst später an.
Um mit einer Analogie zu sprechen: Fortschritte (Prognosen und
Vereinheitlichungen) werden wahrend des Weiterverfolgens der
Konsequenzen erzielt, dem notwendigerweise ein Kampf mit einer
vorhandenen Schwierigkeit (für gewöhnlich ein
offensichtlicher Widerspruch zu dem bestehenden System) vorausgeht.
Ein Teil der Arbeit des theoretischen Physikers besteht in der Suche
nach solchen Hindernissen, die die Möglichkeit eines
'Durchbruchs' versprechen. Wie ich bereits erwähnte, entstammen
diese Schwierigkeiten gewöhnlich dem Experiment, manchmal
bestehen sie jedoch in Widersprüchen zwischen verschiedenen
Teilen einer akzeptierten Theorie selbst. Es gibt natürlich
zahlreiche Beispiele dafür.
Der Michelson-Versuch, der zur
speziellen Relativitätstheorie führte, die Schwierigkeiten
bestimmter Ionisationspotentiale und bestimmter spektroskopischer
Strukturen, die zur Quantenmechanik führten, sind Beispiele für
den ersten Fall; der Konflikt zwischen spezieller Relativitätstheorie
und der Newtonschen Gravitationstheorie, aus der die allgemeine
Relativitätstheorie hervorging, ist ein Beispiel für den
zweiten, selteneren Fall. Jedenfalls sind die Probleme der
theoretischen Physik objektiv gegeben; und wenn auch die bei der
Auswertung eines Erfolges maßgebenden Kriterien, wie oben
erwähnt, hauptsächlich ästhetischer Natur sind, so
bilden dennoch die Problemstellung sowie das, was ich oben den
ursprünglichen 'Durchbruch' genannt habe, harte, objektive
Fakten. Dementsprechend war der Stoff der theoretischen Physik zu
beinahe allen Zeiten sehr stark konzentriert; zu fast allen Zeiten
konzentrierten sich die Bemühungen aller theoretischen Physiker
in der Hauptsache auf nicht mehr als ein oder zwei scharf abgegrenzte
Gebiete - beispielsweise in den zwanziger Jahren und zu Anfang der
dreißiger Jahre auf die Quantentheorie und seit der Mitte der
dreißiger Jahre auf die Elementarteilchentheorie und die
Atomkernstruktur.
In der Mathematik ist die Situation völlig
anders. Die Mathematik zerfallt in eine große Anzahl von
Unterabteilungen, die sich durch Charakter, Stil, Ziele und Wirkung
stark voneinander unterscheiden. Sie stellt genau das Gegenteil der
extremen Konzentration der theoretischen Physik dar. Ein guter
theoretischer Physiker kann durchaus heute noch brauchbares Wissen in
gut der Hälfte seines Faches besitzen. Ich bezweifle dagegen,
daß irgendein heute lebender Mathematiker sehr viel mehr als
ein Viertel der gesamten Mathematik übersieht. 'Objektiv'
gegebene, 'wichtige' Probleme können entstehen, wenn eine
Unterabteilung der Mathematik relativ weit entwickelt worden ist und
man sich bei einer Schwierigkeit ernsthaft festgefahren hat. Aber
selbst in einem solchen Fall hat der Mathematiker im wesentlichen die
Freiheit, das Problem aufzugreifen oder es liegen zu lassen und sich
etwas anderem zuzuwenden, wahrend in der theoretischen Physik ein
'wichtiges' Problem für gewöhnlich ein Konflikt, ein
Widerspruch ist, der gelost werden 'muß'. Der Mathematiker
verfügt über eine große Auswahl an Gebieten, mit
denen er sich befassen kann, und es steht ihm nahezu vollkommen frei,
was er mit ihnen machen will. Und nun das Entscheidende: Ich glaube,
es ist richtig, wenn man sagt, daß seine Auswahl - und auch
seine Erfolgskriterien in der Hauptsache ästhetischer Natur
sind. Ich bin mir klar darüber, daß diese Behauptung
umstritten ist, und daß es unmöglich ist, sie zu
'beweisen', daß man sogar bei einer Begründung nicht weit
käme, ohne zahlreiche, spezifische, technische Beispiele zu
analysieren. Dies würde wiederum eine Diskussion ausgesprochen
technischen Charakters erfordern, wozu hier nicht die richtige
Gelegenheit ist. Es möge also genügen, wenn ich sage, daß
der ästhetische Charakter noch hervorstechender ist als bei dem
von mir oben erwähnten Beispiel im Fall der theoretischen
Physik. Von einem mathematischen Lehrsatz oder einer mathematischen
Theorie erwartet man nicht nur, daß mit ihrer Hilfe zahlreiche,
a priori miteinander nicht zu vereinbarende Spezialfalle auf einfache
und elegante Weise beschrieben und klassifiziert werden kämen,
sondern man erwartet auch 'Eleganz' in ihrem 'architektonischen'
Aufbau. Leichtes Aufstellen des Problems, große
Schwierigkeiten, es in den Griff zu bekommen und bei allen Versuchen,
sich ihm zu nähern, dann wieder irgendeine sehr überraschende
Wendung, durch die die Behandlung des Problems oder ein Teil davon
leicht wird usw. Auch sollte, wenn die Deduktionen langwierig oder
kompliziert sind, ein einfaches, allgemeines Prinzip involviert sein,
welches die Schwierigkeiten und Umwege 'erklärt', die
offensichtliche Willkür auf wenige, einfache Leitmotive
reduziert usw. Bei diesen Kriterien handelt es sich eindeutig um
diejenigen einer schöpferischen Kunst, und auch die Existenz
eines zugrundeliegenden empirischen, weltlichen Leitgedankens im
Hintergrund - oft in einem sehr weit entfernten Hintergrund - der
durch schöngeistige Entwicklungen überwuchert ist und eine
Vielzahl labyrinthischer Varianten gebildet hat -, läßt
die Behauptung zu, daß in der Mathematik eher die Atmosphäre
der reinen und einfachen Kunst als diejenige der empirischen
Wissenschaften herrscht.
Sie werden bemerken, daß ich einen
Vergleich der Mathematik mit den experimentellen bzw. mit den
beschreibenden Wissenschaften nicht einmal erwähnt habe. Hier
unterscheiden sich die Methode und die allgemeine Atmosphäre
allzu offensichtlich.
Ich glaube, es ist eine verhältnismäßig
gute Annäherung an die Wahrheit - eine so komplizierte Wahrheit,
daß etwas anderes als eine Annäherung undenkbar ist - wenn
man sagt, daß die mathematischen Ideen in der Empirie
entstehen, obwohl die Genealogie manchmal lang und dunkel ist. Wenn
sie sich jedoch einmal von dort her herausgebildet haben, beginnen
sie ein eigenartiges, selbständiges Leben, und man konnte den
mathematischen Gegenstand am ehesten mit einem schöpferischen
Gegenstand vergleichen, der fast ausschließlich ästhetischen
Motivationen unterliegt, auf keinen Fall aber mit einer empirischen
Wissenschaft. Es gibt jedoch noch einen weiteren Punkt, der meiner
Meinung nach hervorgehoben werden muß. Da eine mathematische
Disziplin sich weit von ihrer empirischen Quelle entfernt,- in der
zweiten und dritten Generation, wo sie nur noch indirekt der
'Realitat' entstammende Ideen enthält, ist die Entfernung noch
großer -, ist sie sehr ernsthaften Gefahren ausgesetzt.
Sie wird zunehmend rein schongeistig, zunehmend zur reinen l´art
pour l´art. Dies muß nicht unbedingt schlecht
sein, vlenn das Gebiet von zusamrnenhangenden Strukturen umgeben ist,
die selbst engere empirische Bindungen haben oder wenn die Disziplin
von Menschen beeinflußt wird, die einen außerordentlich
gut entwickelten Geschmack besitzen. Es besteht jedoch die ernste
Gefahr, daß der Gegenstand im Zuge seiner Entwicklung den Weg
des geringsten Widerstandes einschlagt, daß der Strom, so weit
von seiner Quelle entfernt, sich in eine Vielzahl von unbedeutenden
Wasserläufen aufspaltet und daß die Disziplin zu einer
ungeordneten Menge von Einzelheiten und Verflechtungen wird. Mit
anderen Worten, wenn sich ein mathematischer Gegenstand sehr weit von
seiner empirischen Quelle entfernt hat oder wenn mit ihm viel
'abstrakte' Inzucht getrieben worden ist, besteht die Gefahr der
Degeneration. Zu Beginn ist der Stil für gewöhnlich
klassisch; wenn man jedoch Anzeichen dafür entdeckt, daß
er barock wird, dann ist Gefahr im Verzuge. Es wäre leicht,
Beispiele zu zitieren, einzelne Entwicklungen, die in das Barock und
geradezu das Hochbarock geführt haben, das würde aber
wiederum zu weit führen.
Jedenfalls scheint mir, wenn einmal
diese Stufe erreicht worden ist, die verjüngende Rückkehr
zur Quelle das einzige Heilmittel zu sein: das Neueinführen mehr
oder weniger explizit empirischer Ideen. Ich bin davon überzeugt,
daß dies in der Vergangenheit eine notwendige Voraussetzung
dafür war, die Frische und Lebenskraft der Mathematik zu
erhalten und daß dies auch in Zukunft so sein wird.
(Aus:
»The mathematicican, in: J.
von Neumann, Collected Works, Volume I, Pergamon Press 1961/1947, S.
1-9;«)
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